Stille berührt viele Menschen peinlich, heute wie vor hundert Jahren. Das gilt auch, wenn auf einer Leinwand bewegte Bilder zu sehen sind. So verwundert es nicht, dass rückblickend sogenannte Stummfilme nie wirklich stumm waren. Als die Bilder 1895 laufen lernten, waren Kapellen oder mindestens ein Pianist dabei.
Eine Ära, die nur 32 Jahre währte
Im November 1895 begleitete ein ganzes Orchester eine Filmvorführung von 15 Minuten mit acht Varieté-Nummern im Berliner Wintergarten. Die Musik war speziell für die tonlosen Filmschnipsel komponiert. Einen Monat später lieferte ein Klavierspieler die Stummfilmmusik im Indischen Salon des Grand Café in Paris. Filmvorführungen wandelten sich von einer Jahrmarkt-Attraktion zu einer beliebten Unterhaltung für breite Bevölkerungsschichten. Und ein neues Genre kreativer Kunst wurde geboren – die Filmmusik. Dabei ging es um viel mehr als um das Überwinden peinlicher Stille und das Übertönen des ratternden Projektors. Es galt, die Dramatik der Bilder zu unterstützen, Stimmungen zu transportieren, Zeitsprüngen Kontinuität zu verleihen. Tempo und Dynamik mussten zum wechselnden Bild passen, aber trotzdem als geschlossenes Ganzes wahrgenommen werden. Viele vorhandene Stücke eigneten sich zwar für Standardsituationen. Die Herausforderung war, sie zu finden und harmonisch zusammenzuführen. Die Motion Picture Moods von 1924 sortierten Musikstücke nach inhaltlichen Stichwörtern wie Tanz, Kinder, Weihnachten, Eisenbahn und Sturm. Das Handbuch der Filmmusik von 1927 enthielt mehr als dreitausend Werke von zweihundert Komponisten. Fünf Jahre später war (fast) alles vorbei – der Tonfilm wurde praxistauglich. Der Mann an der Kinoorgel, der Stehgeiger und der Pianist mussten sich nach anderer Arbeit umsehen, ein Drittel der Berufsmusiker verlor den Job.
Comeback der Live-Musik
Heute gelten mehr als 80 % der Stummfilme als verloren. Das liegt einerseits an den chemischen Eigenschaften des Filmmaterials, aber auch an der absichtlichen Zerstörung, um darin enthaltenes Silber zu gewinnen. Moderne Stummfilme als Kunst oder Dokumentation sind ein Nischenprodukt. Und doch erlebt die live gespielte Filmmusik eine Renaissance. Zwar sind es keine Stummfilme, die in großen Konzerthäusern gezeigt werden, aber die Musik kommt nicht vom Band, sondern wird von einem großen Orchester gespielt. Unvergesslich bleibt beispielsweise für das Publikum im KKL Luzern die für einen Oscar nominierte Musik zu „Apollo 13“ von Filmkomponist James Horner mit dem fantastischen Trompetensolo, aufgeführt anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der ersten Mondlandung 1969.
Bild: Bigstockphoto.com / Jonathan Weiss